Jugendliche erforschen Migrationsgeschichte

„Jugendliche erforschen Migrationsgeschichte“ – unter diesem Motto haben sich Jugendliche im Alter von zwölf bis sechzehn Jahren an ihren Schulen mit der Lebens- und Migrationsgeschichte ihrer Mitschüler, Eltern, Lehrer und anderer Leute in ihrem Umfeld beschäftigt. Vier Monate lang, von September bis Dezember 2012, haben die Schüler recherchiert, über ihre unterschiedlichen familiären und kulturellen Hintergründe gesprochen, Filme zum Thema gesehen, Exkursionen gemacht und Interviews geführt.

Dabei wurden nicht nur neue Kontakte geknüpft und andere Sichtweisen kennengelernt, die Gruppen produzierten auch Radiosendungen, Musik und eine Broschüre. Die folgenden Texte stellen einen kleinen Ausschnitt aus den vielfältigen Aktivitäten der Jugendlichen dar.

Nicht alles, was bei den oft sehr persönlichen Gesprächen thematisiert wurde, ist für eine breite Öffentlichkeit bestimmt. Jedoch wirkt die persönliche Begegnung nachhaltiger, als jede Publikation es könnte. Die unterschiedlichen Erfahrungen und Standpunkte anderen in Radiosendungen oder Artikeln zu präsentieren, erfordert viel Mut und Engagement. Dafür möchten wir von PHOENIX - Köln e.V. uns bei allen Beteiligten bedanken.

Regina Hochdörfer

Zu den Radiosendungen: (http://www.flok.de)

 

Hier geht es zu den Radiosendungen (aus urheberrechtlichen Gründen ohne Musikbeiträge):

Radiosendung vom 15.02.2013 (Magazin „Hörens“, ab 21.00 Uhr)

– produziert von Schüler/innen der Henry-Ford-Realschule Chorweiler und dem Freien Lokalrundfunk Köln (FLOK)

 

FLOK-Radiosendung vom 22.02.2013 (Magazin „Hörens“, ab 21.00 Uhr)

– produziert von Schüler/innen der IFK-Klassen der Kurt-Tucholsky-Hauptschule Neubrück und dem Freien Lokalrundfunk Köln (FLOK)

 

FLOK-Radiosendung vom 01.03.2013 (Magazin „Hörens“, ab 21.00 Uhr)

– produziert von Schüler/innen (10. Klassen) der Gruppe „Jung trifft Alt“ der Kurt-Tucholsky-Hauptschule Neubrück und dem Freien Lokalrundfunk Köln (FLOK)

Ein Projekt von PHOENIX – Köln e.V. und „Guckloch“ – Schülerzeitung der Henry-Ford-Realschule

 

http://www.flok.de

http://www.domid.org

 

 

„Migration“ – Ein Projekt zur Migrationsgeschichte in Deutschland

Eine Reportage von Ecem Ates und Berna Kumas, Klasse 9e

 

Wie es zu diesem Projekt kam?

Im September 2012 fragte der Historiker Christian Mader bei der Radio-AG und bei unserer Schülerzeitung „Guckloch“ nach, ob Interesse besteht, zusammen mit drei weiteren Kölner Schulen an einem Migrationsprojekt mitzuwirken, dass die Migrationsgeschichte insbesondere im Raum Köln anschaulich darstellen will. Hierfür sollten auch einmal persönliche Erfahrungsberichte von Menschen mit Migrationshintergrund in unserer Schule geliefert werden. Um uns besser in das Thema Migration einfühlen zu können, besuchten wir im Dezember 2012 zusammen mit Herrn Mader z.B. das Migrationszentrum „DOMID“ in Köln und nahmen auch an verschiedenen Stunden der Radio-AG, die ihrerseits einen Radiobeitrag zu diesem Thema erstellt, teil. Berna und ich entschieden uns für unsere Reportage meinen Großvater, der als einer der ersten türkischen Migranten nach Deutschland kam, zu interviewen und die Tatsache, dass bei unseren Lehrern sehr viele verschiedene Nationalitäten vertreten sind, legte es nahe, auch die Migrationsgeschichte eines Lehrers näher zu erforschen. Unser Bericht sollte dann nicht nur in der Schülerzeitung „Guckloch“ vertreten, sondern auch Bestandteil einer Broschüre sein. Die Bilder unten zeigen unseren Besuch im Migrationszentrum DOMID, wo wir eine Führung und einen Vortrag erhielten.

 

Die Anfänge der türkischen Migration in Deutschland am Beispiel meines Großvaters

Mein Opa war einer der ersten Migranten in Deutschland. Als ich ihn fragte, ob er bereit sei, mir über seine Erfahrungen seiner Migrationsgeschichte zu berichten, war er zunächst erstaunt. Nach ein wenig Bedenkzeit war er aber sehr erfreut darüber, dass sich junge Menschen für seine Geschichte interessieren.

Er wurde in Tunceli, einer Stadt im Westen der Türkei geboren. Damals verkaufte er im jungen Alter Holz, doch das Geld reichte nicht, um seine Familie zu ernähren. Deswegen beschloss er, nach Deutschland zu kommen, um sich hier etwas aufzubauen. Er wollte in Köln ein Haus kaufen und seine Kinder hier zur Schule schicken, damit sie eine Zukunft haben. Am 24.10.1963 fuhr er alleine nach Istanbul und nahm dann den Zug nach München. Mehrere Tage unterwegs zu sein, ohne ausreichend Essen und Trinken, war für viele sehr anstrengend. In München angekommen wurden sie von Beamten abgeholt und dann in eine Bäckerei gebracht. Dort aß er sein erstes Brötchen und trank eine Tasse Kaffee. Danach brachte man sie zur Untersuchung. Hier sollte geklärt werden, ob die Gastarbeiter auch wirklich arbeitsfähig und der oft körperlich harten Arbeit gewachsen waren. Mein Opa beschrieb das Gefühl von fremden Menschen untersucht und sehr grob angefasst zu werden als sehr unangenehm und peinlich. Die Männer wurden wie am Fließband nacheinander untersucht und saßen dabei nackt nebeneinander. Keiner nahm Rücksicht darauf, wie die Männer sich damals fühlten.

Nach der Untersuchung fuhren er und die restlichen Männer mit einem weiteren Zug nach Köln. Sie kamen am Ebertplatz an. Das Gastarbeiterheim hieß „24“ und war schon für die Migranten komplett eingerichtet. Er teilte sich ein Zimmer mit drei anderen Männern. Es gab eine kleine Küche, die alle benutzen konnten, doch leider machte keiner seinen eigenen Dreck sauber. Es war für ihn einfach ekelhaft. Keiner kümmerte sich darum und allen war sowieso alles egal. Am nächsten Tag brachte man sie dann zu der Firma Ford. Die „Drecksarbeiten“ mussten die Migranten erledigen. Ungeachtet dessen war er aber trotzdem sehr dankbar dafür, überhaupt Arbeit bekommen zu haben. Jeder verdiente damals pro Woche fünfzehn DM, was für türkische Verhältnisse sehr viel gewesen ist. So viel, dass es auch zu Diebstählen in der Unterkunft kam. An dem Abend als mein Opa seinen ersten Lohn bekommen hatte und er zum Schlafengehen seine Jacke über den Stuhl neben seinem Bett gelegt hatte, musste er feststellen, dass alles am nächsten Tag verschwunden war. Das musste für ihn ein bitteres Gefühl gewesen sein, denn es war ja sein allererster richtiger Lohn und nun hatte er ganz umsonst gearbeitet. Von den eigenen Landsleuten beklaut zu werden hatte er nicht erwartet. Das schlimmste aber war für meinen Großvater die fremde und sehr komplizierte Sprache. Keiner von den Migranten konnte Deutsch sprechen und umgekehrt sprach auch auf der Arbeit keiner ein Wort Türkisch. Kommunikation auch im Alltag fand daher kaum statt und begrenzte sich auf die Landsleute im Migrantenheim. Mein Opa erinnert sich noch gut an einen Mann, der in einen kleinen Einkaufsladen ging und ein gackerndes Huhn nachmachte, um verständlich zu machen, dass er Eier kaufen wollte. Da das natürlich kein wünschenswerter Zustand war, hat mein Opa dann für sechs Monate einen Deutschkurs besucht, der kostenlos angeboten wurde und direkt im Heim stattfand. Die Nummer dieses „Klassenzimmers“ weiß er noch heute: Zimmer 205. Später arbeitete mein Opa nicht nur in Merkenich sondern auch in Mauenheim. Damals gab es im Kölner Norden noch keine U-Bahn und so war der tägliche Arbeitsweg sehr energieraubend und führte meinen Opa oft zu Fuß durch viel Dreck und Matsch. Im Vergleich zu damals habe sich unglaublich viel verändert, meinte mein Opa. Vieles sei einfacher und technisierter geworden und längst schon arbeiten Menschen mit türkischen Wurzeln auch in Führungspositionen bei Ford. Nach der schwierigen Anfangsphase holte mein Großvater auch seine Frau nach Deutschland und sie fing auch an, hier zu arbeiten und bald darauf wurde aus ihnen eine komplette „deutsche“ Familie. Meine Eltern sind wie auch ich also in Deutschland geboren. Auf die Frage, ob er sich in Deutschland integriert fühle, antwortet mein Großvater: „Es gab Dinge, die wirklich schwer zu ertragen waren. Ich habe viel gelitten, aber ich fühle mich heute hier einfach wohl. Ich bedanke mich für jeden Tag, dass ich so leben darf, wie ich es jetzt tue. Ohne Hunger oder Armut. Mein Glück habe ich hier gefunden und ich segne die Menschen, denen ich das zu verdanken habe.“

Verständlicherweise besitzt mein Opa nicht viele Fotos aus den ersten Jahren in Deutschland und die, die er in einer kleinen Kiste aufbewahrt, hütet er wie einen Schatz. Eines seiner Bilder, die ihm besonders wichtig sind, durfte ich aber abfotografieren. Es zeigt ihn in stolzer Pose an seinem Arbeitsplatz bei Ford Mitte der 70er Jahre, wo er bis zu seiner Verrentung tätig war.

 

 

„Integration bedeutet, sich an die gesellschaftlichen Regeln des Ziellandes anzupassen.“ Gedanken zur Migration und Integration von unserem indisch stämmigen Lehrer Herrn Pillai.

(Ein Interview von Ecem Ates und Berna Kumas, Klasse 9e)                 

Hallo, mein Name ist Shajy Pillai. Ich bin am 14. Juni 1973 in Köln-Zollstock geboren. Meine Eltern kommen aus Südindien und zwar aus dem Bundestaat Kerala. Sie sind in den sechziger Jahren beide auf verschiedenen Wegen eingewandert. Mein Vater war mehrere Jahre beim Militär und als Diplomat in Delhi tätig und ist dann nach Bonn versetzt worden. Er arbeitete dort in der Indischen Botschaft. Meine Mutter hatte bei christlichen Ordensschwestern in Südindien als Krankenschwester gearbeitet, denn damals waren dort viele Orden präsent und missionierten. Deshalb lebte und lebt auch heute in Kerala eine größere christliche Minderheit. Meine Mutter kommt aus einer solchen christlichen Familie und hat sich damals mit sechszehn Jahren für Deutschland beworben, da man in Deutschland dringend Krankenschwestern suchte. Sie ist durch ihren Ordensverband (Augustinerinnen) dann hierher gekommen. Meine Eltern haben sich erst in Deutschland kennengelernt und auch hier geheiratet. Um unbefristet hier bleiben zu können, hat mein Vater später seine Arbeit aufgegeben und eine Ausbildung als Krankenpfleger abgeschlossen. Sie arbeiteten beide viele Jahre zusammen im gleichen Krankenhaus. Auf den beiden Bildern unten kann man die ersten Bilder meiner Eltern in Deutschland sehen. Sie entstanden bei der Hochzeit meiner Eltern und bei meiner Geburt 1972 und 1973.

 

Ich bin mit drei Jahren ohne meine Eltern zurück nach Indien zu meinen Großeltern gegangen. Meine Eltern hatten vor, noch ein paar Jahre in Deutschland zu arbeiten und sich dann in Indien selbstständig zu machen. Ich sollte in Indien aufwachsen, um nicht später Schwierigkeiten im Bereich Schule und Sprache zu bekommen. Mein Vater hatte vor, in Indien mit Hilfe meiner Mutter eine Apotheke auf zu machen. Im Laufe der Zeit ist ihnen aber klar geworden, dass das Leben in Deutschland sicherer ist und mehr Qualität besitzt. Das Leben ist in Deutschland organisierter und strukturierter. In Indien gibt es keine Rente oder wenn du arbeitsunfähig bist, keine Hilfe. Ich habe die Schule dann in Deutschland weiter gemacht. Ich musste ein Jahr in der Grundschule wiederholen, denn ich konnte wenig Deutsch, habe deshalb jeden Tag bis tief in die Nacht hinein gelernt. Damals war Nachhilfe sehr teuer und unsere Familie konnte sie sich nicht leisten. Die Schulen hatten nach meiner Erfahrung früher keine Rücksicht auf Migranten genommen. Wenn du kein Deutsch konntest, konntest du gleich wieder gehen. Die Schulen in Indien sind aber im Vergleich weniger gut ausgestattet gewesen. Damals gab es keine Tische, wir waren 50 bis 55 Schüler in einer Klasse und wir schrieben mit Kreide auf Blackboards in engen Räumen, die halb so groß sind wie unsere Klassenräume. Das nächste Bild zeigt mich und meine Klasse 1978 in Changanacherry im Bundesstaat Kerala.

Nach der Grundschule habe ich dann die fünfte Klasse eines Gymnasiums besucht, später Abitur gemacht und studiert. In Indien war der Unterricht im Gegensatz zu Deutschland viel strenger. Es gab die Prügelstrafe, wenn man sozial aufgefallen ist. Man musste die gewünschte Leistung in der Schule vollbringen, sonst wurde man von der Schule geschmissen. Unsere Schule sagte: „Das ist die Grenze. Wir machen die Regeln und ihr habt euch daran zu halten und wenn nicht, dann könnt ihr irgendwo anders hingehen“. Ich finde, dass es so richtig ist und jeder sich an Regeln halten sollte. Eine strengere Erziehung seitens der Familie als auch seitens der Lehrer wäre auch hier in Deutschland für mich wichtig. Das hat m.E. viel mit Integration zu tun. Man muss sich als Ausländer anpassen. Egal, aus welchem Land man kommt, man muss sich an die Gesetze halten und die gesellschaftlichen Pflichten einhalten, ohne natürlich die Traditionen seiner Heimat komplett vergessen zu müssen. Deutschland haben wir in meiner Familie grundsätzlich als offenes und tolerantes Land erfahren. Seit vielen Jahren machen sich hier Menschen erhebliche Mühe um Bürgern mit Migrationshintergründen zu helfen, mehr als in manch anderen europäischen Ländern. Doch auch für mich gab und gibt es Probleme im Alltag, die die Frage aufkommen lassen, ob Integration schon in allen Teilen des Landes zur Selbstverständlichkeit geworden ist:

Für mich heißt integriert sein, wenn jemand mit anderem Aussehen zum Beispiel in irgendein Dorf in Bayern fährt, sich in ein Wirtshaus begibt, sich hinsetzt und das Gefühl bekommt, einer von vielen zu sein und auch so behandelt wird. Ich habe aber aus eigenen Erfahrungen gelernt, dass das in Wirklichkeit gar nicht so ist. Wenn ich mir etwas zu trinken bestellen mochte, wurde ich nicht mal bedient. Die Leute schauten einen nur an, kamen aber nicht. Da merkt man, dass Integration noch nicht stattgefunden hatte oder noch nicht bei jedem angekommen war. Ich finde, jedes Land wird durch die Dörfer charakterisiert, nicht durch Großstädte wie Berlin oder Köln. Für mich ist Indien auch nicht nur Delhi oder Bombay. Dies sind zwar große Städte, aber sie spiegeln eben nicht den Charakter von Indien wieder, sondern vielmehr die tausende von kleinen Dörfern, die es dort gibt. Sagen wir mal, du lebst in Köln. Sobald du sechzig Kilometer rausfährst, gelten dort ganz andere Regeln für Ausländer. Sie werden dort kritischer beäugt. Solange dies noch so ist, ist die Integration in Deutschland noch sehr entwicklungsfähig.

Ein weiteres Problem von uns Migranten ist, dass man sowohl in Deutschland als auch im eigenen Herkunftsland als Ausländer angesehen wird. Da fragt man sich dann: „Was ist unsere Heimat? Haben wir überhaupt eine?“ Sobald du in deinem Heimatland ankommst, merken die Menschen, dass du nicht von dort bist. Die Art, wie man die eigene Sprache ausspricht, unterscheidet einen schon von anderen Mitmenschen. Einige werden immer lästern und sagen, dass man nicht von hier ist. Das ist einfach so. Sobald sich die Sprache entwickelt bzw. verändert und man es selber nicht mitbekommt, gilt man als Ausländer im eigenen Heimatland. Menschen die nur die eigene Sprache sprechen können, haben immer einen Vorteil. Wir machen Dinge aber unbewusst und das verrät uns dann. Ich glaube, dies ist eine Sache, die viele Schüler an unserer Schule wohl nur zu gut nachvollziehen können, wenn sie mit ihren Eltern in das Heimatland der Großeltern fahren.

 

 

Die Jesiden

 

In unserer Gruppe an der Kurt-Tucholsky-Hauptschule in Neubrück haben wir uns mit dem Thema Migration und unserer eigenen Lebens- und Migrationsgeschichte beschäftigt. Dabei stellte sich heraus, dass mehrere Schülerinnen und Schüler unserer Gruppe Jesiden sind. Da viele nicht wissen, wer die Jesiden sind, hat Derin uns ein Referat über die Jesiden gehalten. Aus dem Referat und einem folgenden Gespräch mit den jesidischen Mitschülern ist dieser Artikel entstanden.

 

Jesiden glauben wie Muslime und Christen an einen einzigen Gott, das Jesidentum ist also eine so genannte monotheistische Religion.

Die meisten Jesiden sind Kurden und leben im Norden des Irak. Es gibt aber auch viele Jesiden in Deutschland und im restlichen Europa. Außerdem leben einige Jesiden in Russland, den USA, Syrien, der Türkei, im Iran und im Kaukasus. Obwohl auch in Köln einige Jesiden leben, gibt es keine feste jesidische Gemeinde hier. Die nächsten jesidischen Gemeinden sind in Essen, Bielefeld und Oldenburg. Meistens feiern die Kölner Jesiden ihre Feste und Gottesdienste also nicht in einer Kirche sondern zu Hause.

Die Jesiden glauben nicht an eine Hölle oder einen Teufel. Ihrer Meinung nach ist der Mensch selbst für seine Taten verantwortlich. Aus jesidischer Sicht hat Gott dem Menschen die Möglichkeit gegeben, zu sehen, zu hören und zu denken. Er hat ihm den Verstand gegeben und damit die Möglichkeit, für sich den richtigen Weg zu finden.

Für Jesiden endet das Leben nicht mit dem Tod, sondern es wird nach einer Seelenwanderung ein neuer Zustand erreicht.

Jesiden vertreten nicht die Auffassung, andere Menschen von der eigenen Religion überzeugen zu müssen. Um ein guter Mensch zu sein, muss man nicht unbedingt Jeside sein. Allerdings kann man den jesidischen Glauben nicht annehmen, man kann nur als Jeside geboren werden. Beide Eltern müssen Jesiden sein. Wenn ein Jeside einen Andersgläubigen heiratet, gehört er nicht mehr zur Religionsgemeinschaft dazu.

Es gibt bei den Jesiden drei verschiedene Kasten: die Scheichs, die Pirs und die Muriden. Die Scheichs und Pirs sind Geistliche und führen die Zeremonien bei Festen durch, sollen den Gläubigen in Not helfen und Streitereien zwischen Jesiden schlichten. Die Scheichs sollen ähnlich Politikern auch die Gemeinschaft nach außen vertreten. Die Kaste der Muriden ist die größte Kaste, ihr gehören die einfachen Gläubigen an. Die Kaste hat aber nichts mit dem Beruf zu tun. Jeder Jeside und jede Jesidin darf unabhängig von seiner oder ihrer Kaste oder dem Geschlecht jeden Beruf frei wählen. Schwierig ist es für gläubige Jesiden zu heiraten, denn sie dürfen nur Jesiden aus ihrer eigenen Kaste heiraten, und da ist es nicht leicht, jemanden zu finden, besonders wenn um einen herum überwiegend Nicht-Jesiden leben. Früher haben die Eltern den Ehemann oder die Ehefrau für ihre Kinder ausgesucht, heutzutage wird das aber immer weniger gemacht.

Anders als bei den Christen oder Muslimen haben die Jesiden kein Buch wie die Bibel oder den Koran, auf das sie sich berufen. Ihre Traditionen und ihr Glaube wird vor allem mündlich in der Familie weitergegeben.

Heilig ist bei den Jesiden der Pfau. Er ist das Symbol für Taus-i Melek, der „Engel Pfau“. Er ist das Oberhaupt der sieben Engel. Einmal wollte er sich selbst zum Gott erheben und fiel bei Gott in Ungnade. Doch ihm wurde vergeben und seitdem ist der für Gott der Wächter der Welt und Vermittler zwischen den Gläubigen und Gott.

In Lalisch, einem Bergtal bei Mosul im Irak ist das größte Heiligtum der Jesiden. Jedes Jahr findet im Oktober dort das Fest der Versammlung statt. Jeder Jeside muss in seinem Leben einmal nach Lalisch gepilgert sein. Aus Lalisch bringen die Pilger geweihte Erde mit, die mit dem heiligen Wasser der Quelle Zemzem zu festen Kügelchen geformt wurde. Diese „Berat“ gelten als „heilige Steine“.

 

Viele Jesiden verlassen den Irak, weil sie als religiöse Minderheit Probleme haben, eine Arbeit zu finden oder eine Ausbildung zu bekommen. So wollte z.B. ein Jeside nach seinem Studium Arzt werden, man sagte ihm aber, er dürfe höchstens Tierarzt werden. Er ging zur Polizei, wo man ihm sagte, er müsse noch mindestens weitere sieben Jahre studieren. Der Mann ist erst viel später im Ausland Arzt geworden. Oft gibt es Streitigkeiten mit kurdischen und anderen Muslimen. Viele Muslime verleumden die Jesiden als „Teufelsanbeter“, oft wollen sie nicht bei Jesiden arbeiten oder kaufen. Seit dem Ende des Irakrieges sind sie auch immer wieder Opfer islamistischer Anschläge, wie zum Beispiel 2007 die Bombenanschläge in den von Jesiden bewohnten Dörfern El Khatanijah und El Adnanijah, bei denen mehrere Hundert Menschen ums Leben kamen.

Man kann das Wort Jesiden auch anders schreiben: Ezidi, Yazidi oder Yezidi.

 

Das Gespräch führten Derin, Solin, Zaman, Riwan, Robar, Kaed und Christian

Das Thema Migrationsgeschichte warf bei allen Beteiligten viele Fragen auf. Eine Zusammenfassung von Cecil Arndt

 

Worüber Menschen sprechen, wenn es um "Migrationsgeschichte" geht, ist gar nicht so eindeutig, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Denn was genau mit "Migrationsgeschichte" gemeint ist, wer sie wem erzählt, und welche verschiedenen Bedeutungen das Erzählte annehmen kann, hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab.

 

Deshalb ist es wichtig, sich im Zusammenhang mit Migration (der "Wanderungsbewegung" von Menschen) und mit Geschichte (der "Entwicklung der Menschheit / der Gesellschaft") vorweg einige Fragen zu stellen, die deren politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen berühren. Dabei sollten wir uns immer wieder klar machen, dass es nicht um irgendeinen "Forschungsgegenstand", sondern um konkrete Menschen geht, deren Geschichte erforscht und erzählt werden soll - um Menschen also, von denen diese Geschichte handelt (als "Objekte" der Migrationsgeschichte), und die gleichzeitig in dieser Geschichte die Handelnden sind ("Subjekte" der Migrationsgeschichte).

 

Das, was wir erzählen und wie wir davon erzählen, erzählt immer auch unsere eigene Geschichte - egal, wer wir sind. Bevor wir mit dem Forschen und Erzählen beginnen, ist es deshalb wichtig zu klären, mit welchen Fragen und vor welchem Hintergrund wir erzählen, in welchem Verhältnis wir zu dem Erzählten stehen, und wen wir sprechen lassen wollen.

 

Woher, wohin und wann

Zunächst ist es deshalb notwendig, das, was wir unter Migrationsgeschichte verstehen, räumlich und zeitlich einzugrenzen: Sprechen wir über Migration im Allgemeinen, als etwas, das Menschen schon immer und überall auf der Welt und in alle Richtungen unternommen haben? Oder beziehen wir uns auf einen bestimmten geographischen Raum, etwa auf die Südhalbkugel, oder auf Europa, oder nur auf ein bestimmtes Land - wie im Fall unseres Projekts "Jugendliche erforschen Migrationsgeschichte" auf Deutschland? Und über welche Form von Migration wollen wir sprechen - über Auswanderung aus Deutschland, z.B. nach Australien oder Südamerika, über Binnenmigration, z.B. aus München nach Köln-Porz (und fällt eigentlich auch ein Umzug von Rostock nach Köln-Ehrenfeld vor dem "Mauerfall" darunter?), oder begrenzen wir uns beim Thema Migration auf die Einwanderung nach Deutschland? Und was meinen wir mit Deutschland - das, was in unterschiedlichen Grenzen seit 1949 die Bundesrepublik Deutschland ist, oder zählen wir auch die damalige DDR dazu, das Dritte Reich, die Weimarer Republik, das Deutsche Kaiserreich?


Geographische Grenzen sind immer auch politische Grenzen und markieren Räume, in denen bestimmte Lebensbedingungen, politische Ideen, kulturelle Sitten und Gebräuche vorherrschen und bestimmte Gesetze gelten. Dies führt uns direkt zu der Frage, über welchen Zeitraum wir sprechen: Wann fängt die Migrationsgeschichte eines Landes eigentlich an? Beginnt die Migrationsgeschichte Deutschlands mit der Verdrängung des homo neanderthalensis durch den vom afrikanischen Kontinent eingewanderten homo sapiens? Was ist mit den Römern und den Völkerwanderungen z.B. der Hunnen, der Bayern, der Sachsen, der Franken, der Alamannen und der slawischen Stämme im Frühmittelalter? Wen und was bezeichnet Migration im Deutschen Kaiserreich, dessen östliche Grenzen fast bis zum heutigen Litauen reichen? Was ist mit den wenigen nach 1945 zurückgekehrten Jüdinnen und Juden, denen unter den Nazis die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt wurde? Und haben die nach dem Zweiten Weltkrieg aus den ehemaligen Ostgebieten Vertriebenen eigentlich einen Migrationshintergrund, und sind ihre Nachkommen "Migrantenkinder"? Diese Fragen erscheinen nur auf den ersten Blick "komisch" - denn es sind, neben der gesellschaftlichen Wahrnehmung (die leider allzu häufig auch eine Geschichte des Rassismus und der Ausgrenzung erzählt) diese historischen, politischen und damit rechtlichen Grenzen, die bestimmen, wer eigentlich als Immigrant und Immi­grantin zählt, und wer als "echter Eingeborener". Daher ist es, vor allem der Erzählbarkeit halber, wichtig, auch die zeitliche Periode einzugrenzen, zu der geforscht, von der erzählt werden soll.

 

Wer, wie und warum

Auch die Frage, über wen Migrationsgeschichte eigentlich etwas erzählt, ist nicht ganz eindeutig - denn Migrationsgeschichte (die im Folgenden zur Vereinfachung auf die Geschichte der Migration in die BRD seit 1949 reduziert wird) erzählt nicht nur etwas über diejenigen, die aus den verschiedensten Gründen einst die Entscheidung getroffen haben, nach Deutschland zu immigrieren, sondern auch etwas über die Menschen, mit denen sie fortan zusammenleben. Neben denjenigen, die nach Deutschland kommen oder als deren Kinder schon eine ganze Weile hier leben, gibt es weitere Akteure der Migrationsgeschichte, die ihre Einreise- und Lebensbedingungen und damit die Geschichte mitbestimmen, auch wenn diese nicht unbedingt als konkrete Personen auszumachen sind. Es sind z.B. Politiker, die Gesetze erlassen, welche bestimmen, wer in Deutschland zu welchen Bedingungen leben darf und wer nicht (Stichworte hier sind Ausländergesetze, Asylgesetzgebung, Aufenthaltsgesetze, Arbeitsgesetze etc.). Diese werden auch mitbestimmt durch die gesellschaftliche Stimmung, die unter den Einwohnern eines Landes vorherrscht (und umgekehrt), und die sich darin ausdrückt, wie willkommen eigentlich die verschiedenen Menschen sind, die als Migranten und Migrantinnen wahrgenommen werden, weil sie aus anderen Ländern kommen, vielleicht unterschiedliche Hautfarben, beim Deutschsprechen einen Akzent oder andere kulturelle Hintergründe haben. Auch die Interessen der Wirtschaft (der Industrie, des Dienstleistungsgewerbes, des Handels) in einem Land  beeinflussen die Möglichkeiten der Immigration: Werden gerade händeringend mehr Arbeitskräfte gebraucht, und wenn ja, welche? Die Berichterstattung in den Medien gestaltet das Klima mit, in dem Migration und das Zusammenleben der unterschiedlichen Menschen stattfindet: Wie und mit welchen Mitteln wird Migration im Fernsehen, im Radio, in der Zeitung  thematisiert (als Bereicherung? Als Problem? Als Chance auf Entwicklung?), und wie wird über die verschiedenen Migranten und Migrantinnen gesprochen (als verschiedene Gruppen? Als Individuen? Als "Fremde", die sich irgendwie von der "Mehrheitsgesellschaft" unterscheiden? Als Menschen mit Problemen? Oder als Menschen mit reichem Erfahrungsschatz, die z.B. Sprachen sprechen, die viele andere der hier lebenden Menschen von ihnen lernen könnten?). Wie stark dabei die Perspektiven derjenigen repräsentiert werden, über die gesprochen wird, und wie stark ihre verschiedenen Meinungen, Interessen und Bedürfnisse Anerkennung finden, hängt in starkem Maße auch davon ab, ob und wie sie z.B. in den oben genannten Bereichen vertreten sind. Ausschlaggebend hierfür sind auch die verschiedenen "Communities", in denen z.B. ein gemeinsamer Alltag stattfindet, Erfahrungen ausgetauscht, Interessen vertreten und Haltungen verhandelt werden, sowie Verbände, Vereine, kulturelle Einrichtungen und Institutionen, Musik, Romane, Museen etc. Dazu zählt auch das Sammeln und Erzählen von Geschichten, die manchmal Gemeinsamkeiten aufweisen, vor allem aber individuelle und manchmal sehr unterschiedliche Erfahrungen hörbar und erlebbar machen, ohne die ein Sprechen über Migration und Geschichte nicht möglich ist.

 

Wer erzählt was?

Die Darstellung von Geschichte hängt in starkem Maße davon ab, wer diese Geschichte erzählt, vor welchem Hintergrund, anhand welcher Fragen erzählt wird, und worauf genau diese Geschichte das Hauptaugenmerk richtet. Und wie im "wahren Leben"  unterscheiden sich auch die Erinnerungen der jeweiligen Erzähler stark voneinander - u.a. meist abhängig davon, wie sich das Erlebte (oder auch das Vermittelte) angefühlt und auf das eigene Leben ausgewirkt hat, wie und mit wem darüber gesprochen wird und welches Ziel das Erzählen hat.

 

Dabei lassen sich einige Fakten (z.B. die offiziellen Zahlen von nach Deutschland immigrierten Menschen und in Dokumenten festgehaltene Daten von Ereignissen) leicht recherchieren und sind - zumindest einigermaßen - leicht "objektivierbar" (obwohl wir uns immer vor Augen halten sollten, dass beim Aufzählen immer auch vieles weggelassen und damit unsichtbar gemacht wird, das für andere vielleicht wichtig gewesen wäre). Quellen hierfür können z.B. das Statistische Bundesamt sein, das u.a. Menschen nach unterschiedlichen (aber nicht immer unumstrittenen) Kriterien wie Nationalität, Einwanderungsdatum, Migrationshintergrund, Einkommen etc. erfasst; Abhandlungen über die staatliche Ausländerpolitik, die die Entwicklung der verschiedenen Ausländergesetze nachzeichnen; oder Geschichtsbücher, die wichtige gesellschaftliche Ereignisse (aber eben nie alle) in den verschiedenen Zeiträumen darstellen. Aufschlussreich kann es hierbei sein, nach konkreten Ereignissen auch in den Zeitungen von "damals" zu suchen oder (z.B. im Internet) Fernsehbilder zusammenzutragen und sich anzusehen, wie von diesen Ereignissen berichtet wurde. Konkrete Ereignisse, die wichtige Bestandteile der Migrationsgeschichte darstellen, sind häufig Gesetzesänderungen, die immer auch von gesellschaftlichen Ereignissen begleitet werden wie z.B. Demonstrationen, von bestimmten in den Medien und auf der Straße geführten Debatten (wie die weiter unten beschriebene "Asyldebatte", die "GreenCard-Debatte", die Debatte über die Rütli-Schule, die Islamismus-Debatte etc.), der Veröffentlichung von Büchern, die z.B. rassistische Thesen verbreiten, oder die Einberufung von Institutionen wie der Islam-Konferenz. Auch erschütternde Ereignisse sind darunter  - wie die Serie von Brandanschlägen auf Menschen mit Migrationshintergrund in den 90er Jahren. oder die Serie von rassistischen Morden durch die NSU, die von der Mehrheitsgesellschaft, von den Medien, der Politik und den Sicherheitsbehörden nicht als rassistisch motiviert anerkannt worden sind, sondern statt dessen konstruierten Konflikten zwischen verschiedenen MigrantInnengruppen zugeschrieben wurden. All diese Ereignisse sind wichtig für die Geschichte der Migration, da sie maßgeblich das Zusammenleben von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund beeinflussen und das, was wir wechselseitig voneinander denken und woran wir uns erinnern.

 

In der Regel werden für die Migration in die BRD bestimmte Gruppen von Menschen genannt, deren Immigration für die deutsche Geschichte als bedeutungsvoll erachtet wird, und die bestimmte Phasen der Migrationsgeschichte markieren (s.u.). Manchmal wird dies an Nationalitäten oder anderen "Gruppenmerkmalen" wie Religionszugehörigkeit, Hautfarbe oder kultureller Hintergrund festgemacht, die aus verschiedenen und nicht immer wertneutralen Gründen "bemerkt" werden (z.B. wegen der Anzahl der Menschen, ihrer Verteilung in den verschiedenen Stadtvierteln, ihrer Sichtbarkeit z.B. durch eigene Institutionen wie bestimmten Gemeinden oder Schulen, aber auch aufgrund zeitgeschichtlicher Ereignisse der Weltpolitik wie Kriegen oder schlicht aufgrund von Konflikten zwischen Menschen der Mehrheitsgesellschaft und "anderen" Gruppen). Selten aber finden sich die Erzählungen der Migrationsgeschichte aus der Perspektive von MigrantInnen in den "offiziellen" Schriften zur Migration - denn diese werden meistens von Menschen und Institutionen der irgendwie als "ursprünglich" begriffenen Mehrheitsgesellschaft verfasst, auch wenn diese sich im Laufe der Jahre und mit zunehmenden Einfluss der "Anderen" langsam verändert und ihren Blick erweitert haben. Dabei unterscheidet sich das kollektive Gedächtnis (also die Sammlung derjenigen Ereignisse, die von einer Gruppe von Menschen in einer bestimmten Weise gemeinsam erinnert und weitergegeben wird) der Mehrheitsgesellschaft oft von dem der verschiedenen migrantischen Communities. So beschränken sich z.B. die Erinnerungen an die rassistischen Ereignisse in den 1990er Jahren von Menschen mit migrantischem Hintergrund vielleicht nicht auf die Brandanschläge - und somit auf die Taten von Einzelnen -, sondern schließen die Erinnerung an eine allgemeine rassistische Stimmung und die Medienhetze mit ein, während im Gedächtnis der Mehrheitsgesell­schaft die als Reaktion abgehaltenen Lichterketten eine größere Rolle spielen werden. Ebenso werden sich migrantische Communities die NSU-Morde und den Nagelbombenanschlag in Köln betreffend auch an die Verdächtigungen des migrantischen Umfelds und der Familie der Opfer durch die Behörden erinnern und daran, dass das über Jahre miteinander geteilte Wissen über das dahinterliegende rassistische Motiv von der Mehrheitsgesellschaft und der Polizei nicht anerkannt wurde. Im kollektiven Gedächtnis der Mehrheitsgesellschaft wird womöglich das plötzliche Erschrecken über die Aufdeckung der Morde, über die Möglichkeit, dass Menschen aus rassistischen Motiven über Jahre hinweg unentdeckt Menschen migrantischer Herkunft ermorden können, und das Erstaunen über das "Versagen" der staatlichen Behörden überwiegen.

 

Auch die Erinnerungen der verschiedenen migrantischen Communities unterscheiden sich  voneinander - denn auch diese sind verschiedenen Entwicklungen, Teilungen und Neuzusammensetzungen unterworfen. Dabei spielen - neben vielem anderen - die weitergegebenen Familiengeschichten und "Heimaterzählungen", das Alter und die Generation der Erzählenden, die verschiedenen Erfahrungen und Möglichkeiten der Einzelnen, ihr rechtlicher Status und ihre individuellen Vorlieben eine entscheidende Rolle. Es macht schließlich einen Unterschied, ob ein Mensch über eigene Migrationserfahrungen verfügt, selbst bestimmte Gründe für die Entscheidung hatte, in ein anderes Land zu immigrieren und den "Besuch" in einem Ausländeramts aus eigener Erfahrung kennt; oder ob jemand einen (häufig über fragwürdige Sichtbarkeitskriterien zugeschriebenen) Migrationshintergrund hat, ohne selbst jemals woanders gewohnt zu haben als in seinem Stadtteil und das ihm zugeschriebene "Heimatland" nur aus dem Urlaub (oder vielleicht gar nicht) kennt.  All diese (und viele andere) Faktoren bestimmen die Wahrnehmung des Themas Migration und ihrer Geschichte. Die jeweils individuellen und vom eigenen alltäglichen Erleben bestimmten Erinnerungen und Perspektiven verändern die Geschichten, die wir über Migration sammeln und erzählen. Deshalb ist es wichtig, die Geschichte der Migration auch und vor allem von denjenigen erzählen zu lassen, über die beim Thema Migration gesprochen wird (meist ohne dabei selbst zu Wort zu kommen). So können die vielen verschiedenen Lebenserfahrungen - die Entscheidung zur und die Stationen der Migration, die Gründe, die die verschiedenen Menschen für ihre Immigration hatten, und die Erinnerungen daran, wie sich das Leben nach der Immigration gestaltet hat - erzählt und aufbewahrt werden, um die Geschichte so vielstimmig wie möglich zu gestalten.

 

Auf diese Weise kann deutlich werden: Es gibt nicht die "eine" Geschichte der Migration, die immer und für alle Gültigkeit beanspruchen könnte - vielmehr wird Geschichte jeden Tag von vielen verschiedenen Menschen gemacht, immer wieder neu und anders erlebt und täglich neu geschrieben. Die Erinnerungen an diese Geschichte(n) aus möglichst vielen unterschiedlichen Zeiten und Perspektiven erzählen zu lassen, zu sammeln, zu bewahren und weiterzugeben ist Aufgabe dieses Projekts.

 

Nachtrag: ausgewählte Fakten und Entwicklungen der Ausländerpolitik der BRD

 

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Migration zunächst vor allem von den Folgen des Naziregimes bestimmt; so kamen viele sogenannte "deutschstämmige" Menschen in das Gebiet der heutigen BRD (und auch der ehemaligen DDR), die nach dem Ende des Dritten Reichs und der deutschen Besatzung aus Osteuropa (z.B. dem heutigen Russland oder Polen) vertrieben worden waren. Einige dieser Menschen und ihre Nachkommen sind bis heute in politisch (und wirtschaftlich) einflussreichen "Vertriebenenverbänden" organisiert, in denen sie ihre Interessen und Forderungen formulieren und verhandeln. Gleichzeitig kamen in den Jahren nach dem Krieg viele deutsche Kriegsgefangene zurück, und mit ihnen einige der wenigen Menschen, die die Konzentrationslager der Nazis überlebt hatten, während gleichzeitig die nicht-deutschen ehemaligen Zwangsarbeiter Deutschland verließen. Die Jahre bis 1955 markieren auch die erste Hochphase der Migration zwischen Ost- und Westdeutschland, der durch den Mauerbau 1961 ein Ende bereitet wurde.

 

Das "Wirtschaftswunder" BRD - der wachsende wirtschaftliche Wohlstand der 1950er Jahre - hatte zur Folge, dass die Wirtschaft in der BRD  (u.a. durch die Einführung der Wehrpflicht und der Wiederaufnahme der Rüstungsproduktion) dringend Arbeitskräfte benötigte, die bereit waren, an schwere und schmutzige Arbeit auch zu sehr niedrigen Löhnen zu verrichten, da eine politische Maxime der Zeit war, dass Arbeit auch weiterhin "billig" sein sollte. Dies veranlasste die Politik der BRD, eine Phase der Arbeitsmigrationeinzuleiten und offiziell so genannte "Gastarbeiter" aus Süd- und Südosteuropa anzuwerben, die, so plante man zunächst, nach dem "Rotationsprinzip" je 1 Jahr lang in Deutschland arbeiten sollten, bevor sie in ihre Herkunftsländer zurückkehren sollten, um vom nächsten "Gastarbeiter" ersetzt zu werden. Das ersteAnwerbeabkommen wurde 1955 von der BRD mit Italien geschlossen, 1960 folgten Verträge mit Spanien und Griechenland, 1961 mit der Türkei, 1963 mit Marokko, 1964 folgten Verträge mit Portugal und Tunesien und 1968 wurde das letzte Anwerbeabkommen mit Jugoslawien geschlossen. Diese Phase endete 1973 mit einem offiziellen Anwerbestopp, nachdem die Zahl ausländischer Arbeitskräfte 4 Mio. erreicht hatte. Gleichzeitig wurden in den 1970er Jahren Sonderregelungen erlassen, die zwar weiterhin eine Beschränkung der Aufenthaltsdauer vorsahen (aber nun die Möglichkeit zur Verlängerung der Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis ebestand), u.a. jedoch den Familienzuzug ermöglichten und damit die allgemeine Lebenssituation der Arbeitsimmigranten verbesserten und den Aufbau eines gemeinsamen Alltags (z.B. in selbstverwalteten Gemeinden, Vereinen, Schulen) in den verschiedenen sprachlichen Communitiesförderten.[1]

Als Aussiedlerinnen und Aussiedler (bzw. Spätaussiedler) werden Menschen bezeichnet, deren Vorfahren vor vielen Generationen, besonders im 18. Jahrhundert aus Deutschland ausgewandert waren, und die als Angehörige einer deutschen Minderheit (die nach dem deutschem Grundgesetz als Deutsche gelten) in Deutschland wiedereingebürgert werden. Seit 1988 kamen jährlich etwa 200.000 (Spät-)Aussiedler vor allem aus Russland und Kasachstan, aber auch z.B. aus Polen und Rumänien, wenige z.B. aus Argentinien, Chile und Brasilien oder auch aus asiatischen Ländern in die BRD.

Einen wichtigen Bestandteil der staatlichen Migrationspolitik bildet die Asylgesetzgebung bzw. dieFlüchtlingspolitik. Das Grundrecht auf Asyl nahm bei der Gründung der BRD zunächst einen besonderen Stellenwert ein. Denn während der Zeit des Nationalsozialismus fanden etwa eine halbe Mio. Menschen, die wegen der Politik der Nazis aus Deutschland fliehen mussten, um zu überleben, in anderen Ländern Asyl.[2] Vor diesem Hintergrund wurde das Recht auf Asyl als Grundrecht in die Verfassung aufgenommen. Am 23.05.1993 - etwa zeitgleich zur großen Welle rassistischer Brandanschläge und "Volksmobs" gegenWohnhäuser und Unterkünfte von ImmigrantInnen, bei denen Dutzende Menschen migrantischer Herkunft starben und zum Teil schwer verletzt wurden - änderten Politiker des Deutschen Bundstages das Grundgesetz und beschlossen den sogenannten Asylkompromiss, der die Möglichkeiten von Geflüchteten auf die Zuerkennung von Asyl in der BRD deutlich beschränkte. Diesem Beschluss vorausgegangen war eine von Politikern, von den Medien und am Stammtisch wie auf der Straße geführte Asyldebatte, die mithilfe einer klaren rassistischen Bildsprache, der Beschwörung von Bedrohungsszenarien, der Unterstellung massenhaften Asylmißbrauchs und der Berufung auf die "Rettung des Ansehens Deutschlands", das durch die Reihe der von Deutschen auf MigrantInnen verübten rassistischen Morde gelitten habe, nun die Beschränkung von Immigration im Allgemeinen, im Besonderung der Zuwanderung von Geflüchteten forderte.

Auch der Status von sogenannten Kontingentflüchtlingen und deren räumliche Verteilung auf die einzelnen Bundesländer wird über die Ausländergesetzgebung geregelt. Als Kontingentflüchtlinge werden Menschen bezeichnet, die im Rahmen einer humanitären Hilfsaktion als Angehörige einer bestimmten Gruppe in der BRD aufgenommen werden und besonderen Schutz vor Ausweisung genießen. 1985 bildeten Bootsflüchtlinge aus Vietnam die größte Gruppe der Kontingentflüchtlinge, 1990 waren es albanische Botschaftsflüchtlinge. Seit 1991, dem Ende des Kalten Krieges also, haben jüdische EmigrantInnen aus der ehemaligen Sowjetunion die Möglichkeit, als Kontingentflüchtlinge nach Deutschland einzureisen, wobei die Zahl derjenigen, die von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, in den letzten Jahren stark zurückgegangen ist.

[1]    Zeitgleich wurde die Arbeitsmigration in der DDR durch sogenannte "Vertragsarbeiter" vor allem aus den sozialistischen "Bruderstaaten" Kuba, Vietnam, Mosambique und den sozialistischen Ländern Europas geregelt.

[2]    Dabei ist es wichtig herauszustellen, dass längst nicht alle schutzsuchenden Menschen von anderen Staaten aufgenommen wurden, so dass sie trotz aller Migrationsbemühungen von den Nationalsozialisten ermordet werden konnten.